Biathlon-Zug ohne Bremsen
Eine zeitlich frühe Frage beschäftigt die deutsche Sportszene. Ist Denise Herrmann-Wick seit der WM in Oberhof die Favoritin für die Wahl „Sportlerin des Jahres“. Die 34-Jährige nutzte das Heimspiel am Rennsteig zu einem eindrucksvollen Medaillen-Set. Gold im Sprint, Silber im Einzel und mit der Mannschaft. Eine satte Ausbeute, eine Referenz allemal. Im vergangenen Jahr als Olympiasiegerin von Peking hatte sie Rang 4 (hinter Gina Lückenkemper, Malaika Mihambo, Natalie Geisenberger) belegt. 2019, nach ihrem ersten WM-Coup (Verfolgung) war die ehemalige Langläuferin auf Position sieben gesetzt worden.
Biathletinnen schrieben schon mehrfach SdJ-Sportgeschichte. Als erste holte Uschi Disl - in Oberhof als Kommentatorin für den schwedischen Rundfunk im Einsatz – 2005 die meisten Stimmen. So ging es fast nahtlos weiter. Kati Wilhelm (2006), Magdalena Neuner (2007, 2011, 2012) ließen sich in Baden-Baden zur „Sportlerin des Jahres“ küren, 2017 vereinigte Laura Dahlmaier die meisten Stimmen der Sportjournalisten auf sich. Eine goldene Epoche der Winter-Allrounderinnen.
Eine Heim-WM gehört immer zu den Highlights im deutschen Sportkalender – in Thüringen hatten die „Macher“ Erstaunliches für das zweiwöchige Event geleistet – und sehr viel Geld in die neuen Anlagen investiert. Aber nach einer ordentlichen Neuschneeschicht verdunkelten Nebel, Regen, Sturm und hohe Temperaturen Loipen und Schließanlage. Die Fans kamen dennoch, die Stimmung schwappte über. Bis zum legendärem Oberhof-Roar „Der Zug hat keine Bremsen“, mit den Protagonistinnen um Denise Hermann-Wick mittendrin in der Polonaise.
Während bei den Frauen, dank der starken WM-Novizinnen Sophie Schneider und Hanna Kebinger, die nächste Generation schon meisterhaft mit Ski und Gewehr umgehen können, sieht es bei den Jungs überschaubar aus. Erstmals seit 1969 (!) medaillenlos, erlebten die Biathleten um Benedikt Doll die norwegischen Seriensiege und den schwedischen Schlussakkord ziemlich teilnahmslos. Die fachkundigen Experten bei ARD und ZDF erkannten in ihren TV-Analysen auch kaum Licht am Ende des Horizonts. Übrigens. Als einziger Biathlet katapultierte sich Michael Greis, dreifacher Olympiasieger von Turin 2006, zum „Sportler des Jahres“. Auf der Kurhaus-Bühne nahm der Allgäuer damals – ziemlich baff – die Glückwünsche von Wikinger-Legende Ole Einar Björndalen entgegen. Vielleicht tatsächlich ein bisschen vorzeitig zu philosophieren, wer die Laudatio auf Denise Herrmann-Wick am Jahresende halten könnte. Das Sportjahr 2023 hat noch sehr viel im Petto.
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